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Mit dem Voranschreiten der Digitalisierung steigt die Nachfrage nach zunehmend komplexer werdenden vernetzten mechatronischen Systemen. Diese vernetzten mechatronischen Systeme werden in Kombination mit Services als integrierte Produkt-Service-Systeme entwickelt und vertrieben. Im Kontext des Ansatzes Advanced Systems Engineering (ASE) werden solche Systeme als Advanced Systems (AS) bezeichnet. Durch die dadurch hervorgerufene zunehmende systemische Komplexität, wird zwingend auch die Komplexität der zugehörigen Produktentstehungsprozesse erhöht. Zusätzlich stellen die zunehmende Globalisierung, die steigende Volatilität und erhöhte Unsicherheiten der Märkte sowie der zunehmende Wunsch des Kunden nach Individualisierung bei gleichzeitig kürzer werdenden Produktlebenszyklen im Markt weitere große Herausforderungen an die Produktentstehungsprozesse (PEP). Diese Herausforderungen erfordern ein neues Denken und können nur durch eine erhöhte Flexibilität, Reaktionsgeschwindigkeit und Parallelisierung von Produkt- und Produktionssystementwicklung bestanden werden.

 

Das neue Denken muss auf der theoretischen Basis der Systemtheorie gegründet sein. Darauf aufbauend müssen neue Konzepte für die hochvernetzte, agile Zusammenarbeit aller Domänen im PEP geschaffen werden. Das Konzept mit dem eine solche grundlegende Basis für die domänenübergreifende Zusammenarbeit im PEP geschaffen wird, ist das Advanced Systems Engineering (ASE). Es adressiert eine neue Vorgehensweise zur Beherrschung der Komplexität und ergebnissicheren Steuerung von PEP. Ein weiterer wichtiger Aspekt bezogen auf die Produktionssysteme ist dabei die Resilienz unter den zukünftig turbulenten Randbedingungen der Märkte. Produktionssystem müssen so entwickelt werden, dass diese eine ausreichende Wandlungsfähigkeit verbunden mit einer Sicherheit bezüglich Investitionen bieten. Unter Berücksichtigung der speziellen Eigenschaften zukünftiger Advanced Systems werden die Denkweise des Systems Engineering (SE) und die Techniken des Advanced Engineering (AE) zum Advanced Systems Engineering (ASE) als ganzheitliches Entwicklungsparadigma zusammengefasst. ASE bietet das Potential, die vielfältigen Aspekte des SE und AE im soziotechnischen Engineering-System einer Organisation zu integrieren, wodurch ein paralleles, vernetztes und synchronisiertes Codesign von Produkt- und Produktionssystem ermöglicht wird.

 

Die Wichtigkeit dieses Themas wurde auch im Kontext der Forschung erkannt. Das BMBF hat ein Forschungsprogramm - Beherrschung der Komplexität soziotechnischer Systeme – Ein Beitrag zum Advanced Systems Engineering für die Wertschöpfung von morgen (PDA_ASE) - mit insgesamt neun Verbundvorhaben initiiert, die im vierten Quartal 2020 gestartet sind. Zusätzlich wurde in einem neuen Format ein wissenschaftliches Begleitprojekt – AdWiSE - zur Koordination und Homogenisierung der wissenschaftlichen Ansätze gestartet an dem das IPEK zentral beteiligt ist. Die Bedeutung des Themas Produktentstehung ganzheitlich mit dem ASE Konzept anzugehen, wird auch von dem WBK und IPEK am KIT als wichtiges gemeinsames Forschungsfeld aufgenommen: „Mit Agilität und Struktur erfolgreich Prozesse im Produkt-Produktions-Codesign realisieren“ ist die gemeinsame Initiative unter der wir unsere Kompetenzen bündeln und in Zukunft gemeinsam in Forschung und Innovation umsetzen.

 

 

Die Entwicklung neuer Systeme mit hinreichendem Innovationspotenzial durch hohen Anwender- und Kundennutzen (Effektivität) bei gleichzeitig maximalem Anbieternutzen (Effizienz) stellt eine große Herausforderung dar. In Zeiten stark volatiler Märkte und gleichzeitigen Verlust vorhandenen Wissens durch das Ausdehnen aus dem Arbeitsleben ausscheidende „Baby-Boomer Generation“, ist nachhaltiger wirtschaftlicher Erfolg nur möglich, wenn gezielte Neuentwicklungen und bestehende Lösungen optimal kombiniert werden und dabei gleichzeitig das Wissen aus der Organisation bzgl. Produkt- und Produktionssysteme strukturiert in die Neuentwicklung von Lösungen integriert wird. Hierfür bedarf es geeigneter Prozesse und Methoden zur situationsgerechten methodischen Unterstützung der Synthese neuer innovativer Lösungen und deren Bewertung. Zusätzlich ist ein darauf abgestimmtes Wissensmanagement zwingend erforderlich, um vorhandenes Wissen systematisch zu nutzen. Die Erforschung und Entwicklung solcher Methoden und Prozesse erfordert als Grundlage ein geeignetes Beschreibungsmodell, das die Dynamik von Entwicklungsprozessen sowie die Wechselwirkungen zwischen Produkt-, Produktionssystem-, Validierungssystem- und Strategieentwicklung abbilden kann. Hierfür wurde von Albers et. al. das Modell der PGE – Produktgenerationsentwicklung mit seinen zwei Hauptaussagen erarbeitet:

 

Jede Entwicklung basiert auf einem Referenzsystem, dessen Elemente aus einer ggf. vorhandenen Vorgängergeneration aus Wettbewerbsprodukten, der gleichen Branche, aus Lösungen fremder Branchen und Ergebnissen der Forschung bestehen. Die überwiegende Anzahl aller Entwicklungsprojekte im Unternehmen basiert dabei auf einer Vorgängergeneration. Diese Referenzsystemelemente werden durch Variationsoperationen in die neue Produktgeneration abgebildet.

Die Entwicklung eines neuen Produktes egal ob vollständig neu oder auf einem eigenen Vorgängerprodukt basierend, lässt sich beschreiben als eine Kombination aus Übernahme-, Ausprägungs- und Prinzipvariation von Teilsystemen des Referenzsystems (Referenzsystemelemente).

Diese Abbildung des Referenzsystems in die neue Systemgeneration kann in folgender Notation formuliert werden: 

Ri: Referenzsystem für die Entwicklung der i. Systemgeneration 
V: Variationsoperator mit den Informationen zur Variationsart aller Teilsysteme

Gi: i-te Systemgeneration 

n: Diejenige Systemgeneration, die sich derzeit in der Entwicklung und am nächsten zu SOP befindet, wird durch den Index n beschrieben.

 

Das Referenzsystem wird während der Entwicklung kontinuierlich erweitert und angepasst.

Das Modell der PGE – Produktgenerationsentwicklung beschreibt damit den Syntheseprozess komplexer mechatronischer Produkte von der radikalen Neuentwicklung bis hin zur Adaption existierender Produkte an neue Marktbedingungen. Das entstehende konsistente mathematische Modell ist die Grundlage sowohl des Wissensmanagements als auch der Gestaltung und Validierung neuer Lösungen für Produkte und Produktionssysteme.

Durch dieses Modell kann jede Systementwicklung beschrieben werden. Ausgehend davon erforschen und entwickeln das IPEK und WBK Ansätze im Rahmen der gemeinsamen Initiative „Mit Agilität und Struktur erfolgreich Prozesse im Produkt-Produktions-Codesign realisieren“, um auf Basis von Referenzsystemelementen und deren Charakteristika sowie Variationsarten einzelner Teilsysteme und Variationsanteilen des Gesamtsystems, Innovationspotenziale und Entwicklungsrisiken abzuschätzen. Darüber hinaus werden Methoden zur variationsspezifischen Unterstützung von Entwicklungsaktivitäten und Ansätze für ein darauf abgestimmtes Wissensmanagement untersucht.

 

 

 

 

Die Digitalisierung und die damit einhergehenden digital verfügbaren Daten sind ein wesentlicher Befähiger für die Umsetzung eines integrierten Produkt-Produktions-Codesigns. Durch die Vielzahl an Daten aus der Produktion im integrierten Produkt-Produktions-Codesign ist es beispielsweise möglich, Produkt-Funktionsmodelle in Form eines digitalen Abbilds anzureichern. Produkt-Funktionsmodelle beschreiben die Funktionen eines Produkts in Form von Eigenschaften und Relationen auf abstrakter Ebene. Insbesondere bei komplexen Funktionszusammenhängen lässt sich das Produkt auf diese Weise in überschaubare Teilfunktionen strukturieren.

 

Ein digitales Abbild eines spezifischen Produktes, das dessen Eigenschaften, Zustand und Verhalten durch Modelle, Informationen und Daten beschreibt, wird als digitaler Zwilling bezeichnet. Die durch ein Produkt generierten Realdaten über den kompletten Produktlebenszyklus hinweg bilden dagegen den sogenannten „digitalen Schatten“. Durch eine intelligente Verbindung dieses spezifischen digitalen Schattens, beispielsweise durch Simulationsmodelle, mit einem universalen digitalen Mastermodell, wird eine einzigartige Instanz eines solchen digitalen Zwillings erzeugt. Als modelliertes Produkt kann dabei ebenso ein Produktionssystem gesehen werden.

 

Im Bereich der Fertigung hochpräziser Produkte wird bisher eine Optimierung der Produktfunktion meist durch steigende Anforderungen an das Produktdesign oder mittels Toleranzanpassungen umgesetzt. Insbesondere in der Serienproduktion führt das jedoch zu Qualitätsanforderungen, die technisch nicht oder kaum realisierbar sind. Ein typisches Beispiel sind Hochpräzisionsventile, die aus mehreren Komponenten mit Toleranzanforderungen im Submikrometerbereich zusammengesetzt sind, deren Nichteinhaltung unmittelbaren Einfluss auf die Produktfunktionalität haben. Durch den Einsatz eines digitalen Zwillings ist eine funktionsorientierte Qualitätsregelung in der Serienproduktion umsetzbar. Über digitale Zwillinge werden Produktfunktionsmodelle dargestellt, die in der Produktionssteuerung integriert werden und somit funktionsorientierte Entscheidungen ermöglichen, um optimierte Qualitätsregelkreise in Echtzeit anwenden zu können. Durch die Rückführung von In-Line Messdaten im Sinne des Closed-Loop Prinzips in diesen Qualitätsregler können beispielsweise aktive Anpassungs- und Selektionsmechanismen in der Fertigung bzw. Montage getroffen werden, um die geforderten Produktfunktionen zu gewährleisten. Als beispielhafte Regelungsstrategien sind hier die adaptive Anpassung von Prozessparametern oder die selektive Auswahl von geeigneten Montagepartnern zu nennen. Durch die Integration des digitalen Zwillings des Produktes in den digitalen Zwilling des Produktionssystems ist eine funktionsorientierte Regelung, auch für komplexe Produkte mit mehreren wechselwirkenden Produktmerkmalen und – Eigenschaften, realisierbar.

 

Zudem kann der digitale Zwilling des Produktes zur hochiterativen Validierung bestehender Produktgenerationen durch eine simulationsbasierte Funktionsüberprüfung über den kompletten Produktentstehungsprozess hinweg genutzt werden. Die daraus resultierenden Erkenntnisse können so in die nächste oder sogar noch in die aktuelle Produktgeneration einfließen.

 

Demgegenüber ermöglicht die Integration eines digitalen Zwillings des Produktionssystems in die Produktentwicklung die Ableitung der produktionsbezogenen Freiheitsgrade zur Herstellung neuer Produkte. Die produktionstechnischen Leistungsfähigkeiten, wie beispielweise herstellbare Geometrien, Fertigungstoleranzen, fertigbare Materialien oder die produktabhängigen Fertigungszeiten, ergeben dabei einen Fähigkeitsraum. Dieser kann bei der Konzipierung und Gestaltung von Produkten genutzt werden, um ein produktfunktionsbezogenes und produktionswirtschaftliches Optimum während der Produktentwicklung vorausplanen zu können. Des Weiteren können auf Grundlage der digitalen Zwillinge wirtschaftlich oder technisch erstrebenswerte Anpassungen und Weiterentwicklungen an dem Produkt und dem verwendeten Produktionssystem identifiziert und darauf aufbauend umgesetzt werden.

 

Durch die Zusammenführung von Informationen aus dem Produkt als auch aus dem Produktionssystem mit Hilfe digitaler Zwillinge wird somit ein integratives Produkt-Produktions-Codesign mit engen Regelkreisen ermöglicht.